Sonntag, 27. September 2009

♥ 27. September 1999 ♥

Ich weiß gar nicht mehr, wann genau der Anruf von Jörgs Nephologen (Facharzt für Nierenerkrankungen) kam. Ich weiß nur, dass Herr Dr. Fischer mir zunächst riet, mich zu setzen. Dann bat er mich, mit Jörg alsbald seine Praxis aufzusuchen, um zu besprechen, welche Art der Dialyse (Blutreinigungsverfahren, „Blutwäsche“) wir bevorzugen. Aha. Jetzt war es also soweit. Das, womit wir immer gerechnet, aber bislang erfolgreich ignoriert hatten. Jörg litt schon seit einigen Jahren an einer chronischen Niereninsuffizienz. Dabei handelt es sich um einen langsamen, über Monate oder Jahre voranschreitenden Verlust der Nierenfunktion. Im engeren Sinn bezeichnet der Begriff ‚chronisches Nierenversagen’ das Terminal- oder Endstadium einer chronischen Nierenkrankheit, das gekennzeichnet ist durch eine Nierenleistung von 15 % der Norm oder darunter und die Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie in Form von Dialyse oder Nierentransplantation. Nach dem Gespräch entschieden wir gemeinsam für die Hämodialyse. Durch die Hämodialyse (der künstlichen Blutwäsche) soll das Blut des Patienten von Stoffwechselprodukten und Wasser gereinigt werden. Dazu wird es über ein Schlauchsystem in den Dialysator geleitet und dort über Filtrations- und Austauschprozesse gewaschen. Anschließend gelangt es wieder in den Körper des Patienten zurück. Damit die Blutwäsche effektiv stattfinden kann und der Patient nicht zu häufig und zu lange dialysiert wird, sollten etwa 250-350 ml Blut pro Minute durch den Dialysator geleitet werden. Die natürlichen Blutgefäße des Menschen sind jedoch nicht geeignet, solche Blutmengen auf unkomplizierte Weise zugänglich zu machen. In den Venen, die direkt unter der Haut liegen und daher gut zu punktieren sind, ist der Blutfluss nicht ausreichend. Die Arterien dagegen liegen zum einen in der Tiefe verborgen und sind deshalb schwieriger zu finden. Zum anderen ist eine Punktion der Arterien sehr schmerzhaft. Deshalb muss für eine dauerhafte Hämodialyse operativ ein spezieller Gefäßzugang geschaffen werden, ein so genannter Shunt (engl.: Nebenschluss, Parallelleitung). Diesen Shunt bekam Jörg nur wenige Wochen später gelegt. Man machte uns Hoffnung, dass nach der Shuntlegung noch gut ein halbes Jahr ins Land gehen könne, bis der Kreatinin (ein harnwichtiges Stoffwechselprodukt und ein wichtiger Parameter in der Labormedizin) ein Wert erreicht hat, der die Dialyse unumgänglich macht. So viel Glück hatte Jörg jedoch nicht. Am 9. April 1999 musste sich mein Mann seiner ersten Hämodialyse unterziehen. Und genau zu diesem Zeitpunkt starteten auch die ersten Untersuchungen an. Viel früher als mein Mann hatte ich mich bereits mit dem Thema Lebendspende auseinandergesetzt. Meine Schwiegereltern kamen aus gesundheitlichen Gründen nicht infrage. Jörgs Bruder erklärte sich zwar zunächst bereit, revidierte seine Zustimmung jedoch auf ausdrücklichen Wunsch seiner Frau. Unsere Jungs, Dennis und Christopher, waren zu diesem Zeitpunkt gerade mal ein und zwei Jahre – und Jörg lehnte meinen Wunsch nach einer Lebendspende kategorisch ab. Aber ich kann ja doch sehr stur sein ;o) Die mit einer Lebenspende verbundenen Risiken hatte ich bereits mit Jörgs Nephrologen besprochen. Ich war bei guter Gesundheit, sowohl physisch als auch psychisch. Und ich empfand es damals wie heute als eine Selbstverständlichkeit. Jörg war mein Mann und der Vater meiner Kinder. Ein kleiner Funken Egoismus spielte natürlich aus den vorgenannten Gründen ebenfalls eine Rolle. Ich wollte mit meinem Mann noch gemeinsame viele Jahre verbringen und meinen Kindern einen gesunden, aktiven Vater bewahren. Nachdem die ersten Gesundheitschecks von der uns betreuenden nephrologischen Praxis abgeschlossen und die Ergebnisse an das Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation weitergeleitet worden waren, willigte auch endlich mein Mann (wenn auch zähneknirschend) zur Spende ein. Wir waren damals in der Uniklinik Frankfurt, die die Operation durchführte, das erste Ehepaar – also nicht blutsverwandt -, welches lebendtransplantiert werden sollte. Die nun folgenden Untersuchungen zogen sich ein weiteres halbes Jahr, und ein Fehler beim Zuckertest im klinikeigenen Labor hätte beinahe das Aus bedeutet. Immerhin lag es im Ermessen des damals behandelnden Professors, die Transplantation durchzuführen. All’ unsere Hoffnungen lagen auf diesem notwendigen Eingriff. Dieses Zögern brachte mich nun derart in Rage, dass ich den Professor in Grund und Boden schimpfte. Letztendlich gab es mehr Übereinstimmungen bei den Werten meines Mannes und mir als üblicherweise bei Geschwistern. Diese Operation war gottgewollt! Davon bin ich noch heute überzeugt. Überzeugt hat den Professor wohl auch das Ergebnis des psychologischen Gutachtens, welches über mich erstellt wurde, um Gewissheit zu haben, dass die Spende völlig freiwillig und bewusst erfolgt.

Frühmorgens am 27. September 1999 begann das OP-Team mit der Organverpflanzung. Da die linke Niere entnommen wurde, lag ich auf meiner rechten Seite auf dem OP-Tisch. Jörgs Kalium war (offensichtlich wegen der Aufregung) stark angestiegen, sodass er vor dem Eingriff noch einmal zwei Stunden dialysiert wurde. Für mich bedeutete das lediglich eine verlängerte Narkose. Doch dann konnte es weitergehen. Mit einem Zwölf-Zentimeter-Schnitt entlang des Rippenbogens legte der Operateur die Niere frei. Nachdem die Verbindung zu Harnleiter, Nierenvene und Nierenarterie durchtrennt war, wurde das Organ entnommen, mit Konservierungslösung durchspült (bei der Verpflanzung muss die Niere blutleer sein). Der Schnitt wurde vernäht. Nach etwa zwei Stunden hatte ich den Eingriff überstanden. Etwa eineinhalb Stunden später wurde meine Niere auf Eis in den Nachbar-OP gebracht. Dort nahm ein anderes Team die eigentliche Verpflanzung vor. Jörg lag rücklings auf dem OP-Tisch. Der Unterbauch war geöffnet. Da sich keine Zysten gebildet hatten, konnten die nicht mehr und die nur noch sehr gering funktionierende Niere in seinem Körper bleiben. Das Transplantat wurde an Beckenvene, Beckenarterie und Blase genäht. Dass Jörgs neue Niere funktioniert, konnten Ober-, Assistenzarzt und OP-Schwester sehen, bevor der Schnitt nach ebenfalls zwei Stunden vernäht wurde. Möglich wäre auch gewesen, dass das neue Organ tagelang nicht "angesprungen" oder abgestoßen worden wäre. Dies war bei uns jedoch und Gott sei Dank nicht der Fall. Die Niere funktionierte einwandfrei und wesentlich besser als wir es uns überhaupt erhoffen konnten.

Für mich als Spenderin änderte sich eigentlich gar nichts. Eine kleine Narbe erinnert an die OP, ich bin jedoch völlig frei von Beschwerden und auf keinerlei Medikamente angewiesen. Für meinen Mann änderte sich jedoch viel. Er bekam wieder das Gewicht, welches er durch die Dialyse rapide verloren hatte und wirkte nicht mehr so zerbrechlich. Auch war er nicht mehr ständig müde, wie noch vor der Operation. Statt dreimal pro Woche vier Stunden Dialyse muss er nur noch einmal pro Monat zur Blut- und Urinuntersuchung. Die Anzahl und Dosis der einzunehmenden Tabletten hat sich schon nach kurzer Zeit drastisch verringert. Jörgs Körper hat das Organ besser angenommen als von allen erwartet. Sein Kreatininwert lag zeitweise bei 1,1. Das entspricht den Werten eines gesunden Menschen! Ganz auf Tabletten wird Jörg jedoch nie verzichten können. Durch die Medikamente werden die körpereigenen Abwehrkräfte minimiert, damit der Körper die fremde Niere nicht abstößt. Das kann auch jetzt noch passieren. Aber diese Gefahr wird von Jahr zu Jahr geringer. Einen Schreckmoment hatten wir kurz vor Weihnachten 2008. Mehr als neun Jahre nach der Transplantation traten Abstoßungsreaktionen auf, vermutlich ausgelöst durch einen unbekannten Virus. Die Abstoßung wurde rechtzeitig erkannt und behandelt.

Die Chancen, eine neue Niere viele Jahre zu behalten, stehen inzwischen gut: Stammt das Organ von einem Lebendspender, funktioniert es laut Statistik bei 85 von 100 Empfängern auch nach fünf Jahren noch. Ist der Spender ein Hirntoter, arbeitet die Niere nach dieser Zeit bei 75 bis 80 Patienten. Das hängt damit zusammen, dass bei der Lebendtransplantation die Patienten vorbehandelt werden können und Transport- sowie lange Kühlzeit für das Organ wegfallen. Die Niere eines Lebendspenders kann, wenn alles gut läuft, etwa 20 Jahre im Körper des Empfängers bleiben, die Niere eines Hirntoten dagegen nur etwa zehn Jahre. Auf der Liste des Transplantationszentrums stehen jährlich rund 300 Dialysepatienten. Im Durchschnitt müssen sie sechs Jahre auf eine neue Niere warten. Leider ist die Spendenbereitschaft vieler Menschen – wohl auch aus Unwissenheit oder weil sie oder ihr nahes Umfeld nicht betroffen ist - nicht sonderlich groß…

Ich möchte mit diesem Post niemanden bekehren. Nur Anreiz geben, sich mit dem Thema „Organspende“ vielleicht einmal etwas näher auseinander zu setzen…

Gib mir die Kraft Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Die Gelassenheit zu ertragen, was ich nicht ändern kann. Und das Wissen zwischen beiden zu unterscheiden.
(Verfasser unbekannt)

Wir haben geändert, was wir ändern konnten. Und wir sind froh über jeden Schritt, den wir in diese Richtung gegangen sind.

17 Kommentare:

  1. Genießt beide diesen Tag, wie auch jeden anderen.
    Ich sehe das wie du!!!!
    Ich bin Knochenmarkspender, über mehr mußte ich mir noch keine Gedanken machen!
    Ich wünsche euch beiden alles Gute weiterhin!!!
    Liebe sonntägliche Grüße Bonny

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  2. Hallo Kirstin, das hat mich aber ganz schön gefesselt. Ja, Organspende ist ein sehr wichtiges Thema. Leider kann ich nicht verstehen, dass sich viele Menschen immer noch nicht dazu entschließen können. Meinen Organspender-Ausweis trage ich schon seit 15 Jahren bei mir. Ebenso wichtig ist eine Typisierung bei der DKMS (Deutsche Knochenmarkspenderdatei). Es gibt doch nichts Schöneres als Anderen zu helfen.
    Liebe Grüße und einen schönen Sonntag
    Renate

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  3. Hallo Kirstin,
    danke für den Bericht, der mich, wie immer, wieder mal daran erinnert, dass es bisher nur beim guten Vorsatz geblieben ist, mir endlich einen Organspendeausweis zuzulegen....
    Ich gelobe Besserung!

    Dir und deinem Mann wünsche ich noch ganz viele gemeinsame gesunde Jahre!
    Grüße aus dem Ländle von
    Andrea

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  4. Hallo Süße!
    Seit ich von Deiner Spende weiß, und das ist ja schon ein wenig länger, bin ich der Meinung das daß eine mutige bewundernswerte und liebevolle Entscheidung war!
    Ich drück dich danz lieb!!
    LG Gaby

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  5. Erstmal Hut ab, ich weiß sonst ehrlich gesagt gar nicht viel zu Deinen Beitrag zu schreiben, außer das ich das ganz super toll finde, was du gemacht hast.
    Noch was, ich trage jetzt seit guten 30 Jahren ein Organspenderausweis bei mir, und an meiner Einstellung zu diesem Thema hat sich bis heute NICHTS geändert.

    Liebe Grüße von Caro

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  6. Ich finde das sehr mutig von Dir.
    Genau aus diesem grund habe ich eine Organspendekarte immer bei mir.
    Wen es sein soll das ich sterben muss, so sollen durch mich andere Menschen leben können. Blut spenden ist auch normal, wieso nicht auch Organspende?
    Äs liäbs Grüässli Doris

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  7. Schöner Jahrestag.

    Ich hab auch seit bestimmt zwanzig Jahren nen Organspendeausweis in der Handtasche.Aber es dürfte doch ein Unterschied sein,was mit mir nach meinem Ableben passiert oder ich selbst im Leben jemandem helfe.Meinen Rspsekt hast du.

    LG,Elli

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  8. deine worte sind sehr bewegend und viel näher dran am ganzen als broschüren oder webespots...was du gemacht hast, ist der schönste liebesbeweis...wunderbar...liebe grüße colette

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  9. Hallo Kirstin,
    ich kann auch nur vor dir den Hut ziehen und mir wird immer wieder bewußt, daß es an uns selbst liegt etwas zu tun. Wenn ich deinen Post lese, denke ich sofort an das Jahr 1999. In diesem Jahr war mein Dad 3x wöchentlich im Dialyse-Zentrum in Auerbach. Für ihn kam eine Spende leider nicht mehr in Frage.
    Ich bewundere dich für diesen Schritt und werde mich mit diesem Thema endlich wieder beschäftigen.
    Alles Liebe für dich und deine Familie
    deine Tanja

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  10. Hallo Kirstin,

    Mensch, Hut ab vor dieser "Aktion".

    Ich hoffe, Ihr habt noch viele schöne gmeinsame Zeit miteinander.

    Liebe gRÜ?E eLLI

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  11. Das ist ein toller Bericht, hat mich sehr berührt.
    Vor allem ist das Ergebnis einfach unglaublich toll! Ich hoffe ihr lebt noch viele Jahre so "Problemarm" wie bisher. Für einige Menschen in meinem Bekanntenkreis (und auch für meine Mama) kommt eine Spende aus verschiedenen Gründen nicht in Frage. Um so mehr freut es mich für euch, dass das so positiv ausgegangen ist!

    GLG

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  12. Hallo Kirstin,
    ich habe absolute Hochachtung vor dem, was du getan hast.
    Ich weiß nicht, nach allem, was mir in den letzten Jahren widerfahren ist, ob ich dazu in der Lage wäre.
    Organspende nach meinem Ableben ist kein Thema für mich, sonder klar. Aber eine Lebendspende?

    Ich wünsche euch wahnsinnig viel Glück und Gesundheit!

    LG Petra

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  13. Hallo Kirstin,

    das ist ein schöner und bewegender Post. Danke dafür!
    Du bist eine sehr mutige und tapfere Frau!

    Liebe Grüße
    Christine

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  14. Liebe Kirstin,
    nun habe ich auch diesen Beitrag gelesen und das mit großer Spannung. Ich finde toll, was ihr zusammen durchgemacht habt und hätte nicht anders gehandelt als du.
    Liebe Grüße, Catrin.

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  15. Hallo Kirstin!

    *uffz* Dieser Post ist mir untergegangen. Gerade so etwas Wichtiges...
    Ich bin definitiv pro Organspende.
    Mein Mann war es auch. Zum Glück war er 1997, als das Aneurysma in seinem Kopf platzte, Besitzer eines Organspendeausweises.
    Wie engstirnig Menschen sein können, durfte ich erfahren, als mein Schwiegervater komplett ausrastete, als ich dem Arzt den Ausweis gab und zustimmte, die Geräte abzuschalten.
    Wozu warten, wenn es keine Hoffnung gibt?
    Ich hoffe sehr, dass er vielen Menschen helfen konnte. Manchmal wüsste ich gerne, was aus den Transplantierten geworden ist. Aber leider ist das nicht möglich.

    Auch ich werde meine Organe spenden, wenn es soweit ist.

    Kirstin, ich hatte eben echt Pipi in den Augen, als ich von Eurem Schicksal las. Mich würde es nicht wundern, wenn Du kleine Flügel auf dem Rücken hast. *zwinker*
    Euch alles Gute für die Zukunft!

    LG
    Wonni

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  16. Liebe Kirstin,
    Ich lese erst heute und mit Tränen in den Augen.
    Für mich ist deine Geschichte in erster Linie eine Liebesgeschichte, wie du sagst, es sollte so sein mit den Gemeinsamkeiten, deinen Mann und dich verbindet nun mehr als nur Ehe und Kinder ihr seid wortwörtlich Teil voneinander und das ist doch speziell und wird hoffentlich "ewig" so bleiben, ich wünsche euch beiden mutigen und herzlichen Menschen alles Gute und alles Glück, das man braucht, um gesund gemeinsam euren weiteren Weg zu gehen.
    Liefs Anett

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  17. Vielen Dank für Deinen Bericht ! Ich finde es sehr mutig von Dir, daß Du den Schritt gegangen bist ! Ich würde es auch jederzeit für meine Familie oder meine engsten Freunde machen. Ich finde das einfach selbstverständlich, daß man hilft, wenn man selber keinen Schaden davon trägt !
    Natürlich ist es immer noch was anderes, daß jetzt zu sagen und natürlich auch zu meinen oder den Schritt wirklich zu gehen !
    Du hast meinen größten Respekt !!!

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Vielen Dank, dass du mir deine Zeit geschenkt hast und mir zu diesem Post etwas sagen möchtest ♥