Ich weiß gar nicht mehr, wann genau der Anruf von Jörgs Nephologen (Facharzt für Nierenerkrankungen) kam. Ich weiß nur, dass Herr Dr. Fischer mir zunächst riet, mich zu setzen. Dann bat er mich, mit Jörg alsbald seine Praxis aufzusuchen, um zu besprechen, welche Art der Dialyse (Blutreinigungsverfahren, „Blutwäsche“) wir bevorzugen. Aha. Jetzt war es also soweit. Das, womit wir immer gerechnet, aber bislang erfolgreich ignoriert hatten. Jörg litt schon seit einigen Jahren an einer chronischen Niereninsuffizienz. Dabei handelt es sich um einen langsamen, über Monate oder Jahre voranschreitenden Verlust der Nierenfunktion. Im engeren Sinn bezeichnet der Begriff ‚chronisches Nierenversagen’ das Terminal- oder Endstadium einer chronischen Nierenkrankheit, das gekennzeichnet ist durch eine Nierenleistung von 15 % der Norm oder darunter und die Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie in Form von Dialyse oder Nierentransplantation. Nach dem Gespräch entschieden wir gemeinsam für die Hämodialyse. Durch die Hämodialyse (der künstlichen Blutwäsche) soll das Blut des Patienten von Stoffwechselprodukten und Wasser gereinigt werden. Dazu wird es über ein Schlauchsystem in den Dialysator geleitet und dort über Filtrations- und Austauschprozesse gewaschen. Anschließend gelangt es wieder in den Körper des Patienten zurück. Damit die Blutwäsche effektiv stattfinden kann und der Patient nicht zu häufig und zu lange dialysiert wird, sollten etwa 250-350 ml Blut pro Minute durch den Dialysator geleitet werden. Die natürlichen Blutgefäße des Menschen sind jedoch nicht geeignet, solche Blutmengen auf unkomplizierte Weise zugänglich zu machen. In den Venen, die direkt unter der Haut liegen und daher gut zu punktieren sind, ist der Blutfluss nicht ausreichend. Die Arterien dagegen liegen zum einen in der Tiefe verborgen und sind deshalb schwieriger zu finden. Zum anderen ist eine Punktion der Arterien sehr schmerzhaft. Deshalb muss für eine dauerhafte Hämodialyse operativ ein spezieller Gefäßzugang geschaffen werden, ein so genannter Shunt (engl.: Nebenschluss, Parallelleitung). Diesen Shunt bekam Jörg nur wenige Wochen später gelegt. Man machte uns Hoffnung, dass nach der Shuntlegung noch gut ein halbes Jahr ins Land gehen könne, bis der Kreatinin (ein harnwichtiges Stoffwechselprodukt und ein wichtiger Parameter in der Labormedizin) ein Wert erreicht hat, der die Dialyse unumgänglich macht. So viel Glück hatte Jörg jedoch nicht. Am 9. April 1999 musste sich mein Mann seiner ersten Hämodialyse unterziehen. Und genau zu diesem Zeitpunkt starteten auch die ersten Untersuchungen an. Viel früher als mein Mann hatte ich mich bereits mit dem Thema Lebendspende auseinandergesetzt. Meine Schwiegereltern kamen aus gesundheitlichen Gründen nicht infrage. Jörgs Bruder erklärte sich zwar zunächst bereit, revidierte seine Zustimmung jedoch auf ausdrücklichen Wunsch seiner Frau. Unsere Jungs, Dennis und Christopher, waren zu diesem Zeitpunkt gerade mal ein und zwei Jahre – und Jörg lehnte meinen Wunsch nach einer Lebendspende kategorisch ab. Aber ich kann ja doch sehr stur sein ;o) Die mit einer Lebenspende verbundenen Risiken hatte ich bereits mit Jörgs Nephrologen besprochen. Ich war bei guter Gesundheit, sowohl physisch als auch psychisch. Und ich empfand es damals wie heute als eine Selbstverständlichkeit. Jörg war mein Mann und der Vater meiner Kinder. Ein kleiner Funken Egoismus spielte natürlich aus den vorgenannten Gründen ebenfalls eine Rolle. Ich wollte mit meinem Mann noch gemeinsame viele Jahre verbringen und meinen Kindern einen gesunden, aktiven Vater bewahren. Nachdem die ersten Gesundheitschecks von der uns betreuenden nephrologischen Praxis abgeschlossen und die Ergebnisse an das Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation weitergeleitet worden waren, willigte auch endlich mein Mann (wenn auch zähneknirschend) zur Spende ein. Wir waren damals in der Uniklinik Frankfurt, die die Operation durchführte, das erste Ehepaar – also nicht blutsverwandt -, welches lebendtransplantiert werden sollte. Die nun folgenden Untersuchungen zogen sich ein weiteres halbes Jahr, und ein Fehler beim Zuckertest im klinikeigenen Labor hätte beinahe das Aus bedeutet. Immerhin lag es im Ermessen des damals behandelnden Professors, die Transplantation durchzuführen. All’ unsere Hoffnungen lagen auf diesem notwendigen Eingriff. Dieses Zögern brachte mich nun derart in Rage, dass ich den Professor in Grund und Boden schimpfte. Letztendlich gab es mehr Übereinstimmungen bei den Werten meines Mannes und mir als üblicherweise bei Geschwistern. Diese Operation war gottgewollt! Davon bin ich noch heute überzeugt. Überzeugt hat den Professor wohl auch das Ergebnis des psychologischen Gutachtens, welches über mich erstellt wurde, um Gewissheit zu haben, dass die Spende völlig freiwillig und bewusst erfolgt.
Frühmorgens am 27. September 1999 begann das OP-Team mit der Organverpflanzung. Da die linke Niere entnommen wurde, lag ich auf meiner rechten Seite auf dem OP-Tisch. Jörgs Kalium war (offensichtlich wegen der Aufregung) stark angestiegen, sodass er vor dem Eingriff noch einmal zwei Stunden dialysiert wurde. Für mich bedeutete das lediglich eine verlängerte Narkose. Doch dann konnte es weitergehen. Mit einem Zwölf-Zentimeter-Schnitt entlang des Rippenbogens legte der Operateur die Niere frei. Nachdem die Verbindung zu Harnleiter, Nierenvene und Nierenarterie durchtrennt war, wurde das Organ entnommen, mit Konservierungslösung durchspült (bei der Verpflanzung muss die Niere blutleer sein). Der Schnitt wurde vernäht. Nach etwa zwei Stunden hatte ich den Eingriff überstanden. Etwa eineinhalb Stunden später wurde meine Niere auf Eis in den Nachbar-OP gebracht. Dort nahm ein anderes Team die eigentliche Verpflanzung vor. Jörg lag rücklings auf dem OP-Tisch. Der Unterbauch war geöffnet. Da sich keine Zysten gebildet hatten, konnten die nicht mehr und die nur noch sehr gering funktionierende Niere in seinem Körper bleiben. Das Transplantat wurde an Beckenvene, Beckenarterie und Blase genäht. Dass Jörgs neue Niere funktioniert, konnten Ober-, Assistenzarzt und OP-Schwester sehen, bevor der Schnitt nach ebenfalls zwei Stunden vernäht wurde. Möglich wäre auch gewesen, dass das neue Organ tagelang nicht "angesprungen" oder abgestoßen worden wäre. Dies war bei uns jedoch und Gott sei Dank nicht der Fall. Die Niere funktionierte einwandfrei und wesentlich besser als wir es uns überhaupt erhoffen konnten.
Für mich als Spenderin änderte sich eigentlich gar nichts. Eine kleine Narbe erinnert an die OP, ich bin jedoch völlig frei von Beschwerden und auf keinerlei Medikamente angewiesen. Für meinen Mann änderte sich jedoch viel. Er bekam wieder das Gewicht, welches er durch die Dialyse rapide verloren hatte und wirkte nicht mehr so zerbrechlich. Auch war er nicht mehr ständig müde, wie noch vor der Operation. Statt dreimal pro Woche vier Stunden Dialyse muss er nur noch einmal pro Monat zur Blut- und Urinuntersuchung. Die Anzahl und Dosis der einzunehmenden Tabletten hat sich schon nach kurzer Zeit drastisch verringert. Jörgs Körper hat das Organ besser angenommen als von allen erwartet. Sein Kreatininwert lag zeitweise bei 1,1. Das entspricht den Werten eines gesunden Menschen! Ganz auf Tabletten wird Jörg jedoch nie verzichten können. Durch die Medikamente werden die körpereigenen Abwehrkräfte minimiert, damit der Körper die fremde Niere nicht abstößt. Das kann auch jetzt noch passieren. Aber diese Gefahr wird von Jahr zu Jahr geringer. Einen Schreckmoment hatten wir kurz vor Weihnachten 2008. Mehr als neun Jahre nach der Transplantation traten Abstoßungsreaktionen auf, vermutlich ausgelöst durch einen unbekannten Virus. Die Abstoßung wurde rechtzeitig erkannt und behandelt.
Die Chancen, eine neue Niere viele Jahre zu behalten, stehen inzwischen gut: Stammt das Organ von einem Lebendspender, funktioniert es laut Statistik bei 85 von 100 Empfängern auch nach fünf Jahren noch. Ist der Spender ein Hirntoter, arbeitet die Niere nach dieser Zeit bei 75 bis 80 Patienten. Das hängt damit zusammen, dass bei der Lebendtransplantation die Patienten vorbehandelt werden können und Transport- sowie lange Kühlzeit für das Organ wegfallen. Die Niere eines Lebendspenders kann, wenn alles gut läuft, etwa 20 Jahre im Körper des Empfängers bleiben, die Niere eines Hirntoten dagegen nur etwa zehn Jahre. Auf der Liste des Transplantationszentrums stehen jährlich rund 300 Dialysepatienten. Im Durchschnitt müssen sie sechs Jahre auf eine neue Niere warten. Leider ist die Spendenbereitschaft vieler Menschen – wohl auch aus Unwissenheit oder weil sie oder ihr nahes Umfeld nicht betroffen ist - nicht sonderlich groß…
Ich möchte mit diesem Post niemanden bekehren. Nur Anreiz geben, sich mit dem Thema „Organspende“ vielleicht einmal etwas näher auseinander zu setzen…
Gib mir die Kraft Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Die Gelassenheit zu ertragen, was ich nicht ändern kann. Und das Wissen zwischen beiden zu unterscheiden.
(Verfasser unbekannt)
Wir haben geändert, was wir ändern konnten. Und wir sind froh über jeden Schritt, den wir in diese Richtung gegangen sind.